Aus dem Tagebuch
Ulrich v. Hassells, 17. Februar 1940: „Frühstück bei
Weizsäckers. Nachmittags bei Olga Riegele (Schwester von Hermann
Göring). Gegen Abend bei Beck. Der unheilvolle Charakter des Regimes,
vor allem ethisch gesehen, wird ihm immer klarer. Beck erzählte,
dass eine angesehene Persönlichkeit eine Mission im Auslande habe übernehmen
sollen, aber erklärt habe, sich vorher über die Geschehnisse
in Polen unterrichten zu müssen. Er sei selbst hingefahren und
habe seine schlimmsten Erwartungen übertroffen gefunden, worüber
er eine Art Protokoll aufgezeichnet habe, das Beck gelesen hat. Unter
anderem wird darin berichtet, dass die SS 1500 Juden, darunter viele
Frauen und Kinder, solange in offenen Güterwagen herumgefahren
habe, bis sie alle gestorben wären. Dann habe man durch etwa 200
Bauern riesige Massengräber aufwerfen lassen und danach sämtliche
Personen, die daran gearbeitet haben, erschossen. Ich vergaß zu
erwähnen, dass mir Olga Riegele folgendes berichtete: Hermann
Treskow-Radojewo sei von den Polen als Geisel verschleppt worden; da
er infolge blutiger Füße nicht mehr habe gehen können
und liegengeblieben sei, habe man ihn kurzerhand erschossen. Seine
Frau sei nun zu Göring vorgedrungen und habe ihm gesagt, sie bitte
ihn, zur Ehre des deutschen Namens dafür zu sorgen, dass die furchtbaren
Greuel gegen die Polen und Juden aufhörten! Das hätte ihn
doch erschüttert.“
Was Margarethe v. Treskow 1940 unternahm, stand unter Todesstrafe: den
Reichsfeldmarschall mit den Konsequenzen seines Tuns konfrontieren. Möglich
war ihr dies, weil es private Beziehungen zur Familie Göring gab.
Die innere Kraft dazu hatte sie gefunden, obwohl ihr 65-jähriger
Ehemann Hermann in den ersten Kriegstagen im September 1939 von aufgebrachten
Polen deportiert, misshandelt und nach einem langen Gewaltmarsch erschossen
worden war. Hermann v. Treskow war weder Mitglied der NSdAP noch ein
Vertreter der großdeutschen Interessenspolitik. Er musste für
eine deutsche Polen-Politik sterben, von der er und seine Familie sich
klar distanziert hatten. Schon Hermanns Vater Otto v. Treskow (1831-1901)
hatte 1901 in der Posener Zeitung eine Deklaration gegen den Ostmarkenverein
und das aggressive deutsche Auftreten in Polen veröffentlicht. Von
polnischer Seite hatte er hierfür großen Zuspruch erhalten.
Der polnische Freund und Kollege aus dem Provinziallandtag Stanislaw
v. Chlapowski hatte ihm als einer von vielen am 6. Februar 1901 geantwortet: „Ich
lese eben im Kurjer Poznanski für morgen Ihre aus der Posener Zeitung übernommene
Deklaration. Es hat mir wohlgetan, diese Worte zu lesen. Zwar habe ich
stets in Berlin und in Posen, wo wir zusammen unseren parlamentarischen
Pflichten nachkamen, diese Gefühle von Ew. Hochwohlgeboren gekannt,
aber in der jetzigen politischen Temperatur zolle ich meine höchste
Hochachtung Ihren edlen Überzeugungen und Ihrem politischen Muth
und Ihrer männlichen Unabhängigkeit.“ Die Familie Chlapowski
täuschte sich in ihrer Hoffnung auf Aussöhnung. Mieczyslaw
v. Chlapowski wurde am 23. Oktober 1939 auf dem Marktplatz von Koscian
(südlich von Posen) von der Gestapo erschossen, während er
auf seinen Knien den Rosenkranz betete. Alfred v. Chlapowski, 1904-1909
deutscher Reichstags-Abgeordneter, 1923 polnischer Minister und 1924-1936
polnischer Botschafter in Paris, starb im Februar 1940 im Gestapo-Gefängnis
Koscian. Im September und Oktober 1939 wurden auch die über 1100
Insassen der in Sichtweite von Radojewo gelegenen Nervenheilanstalt Owinsk
deportiert und umgebracht. Die SS benutzte hierzu erstmals Gaswagen,
in denen die Patienten mit Kohlenmonoxyd vergiftet wurden. Hinzu kam
die Verschleppung katholischer Geistlicher und die allgegenwärtige
Erschießung von Juden. Nach heutigen Schätzungen fielen den
SS-Einsatzgruppen in Polen von September 1939 bis zum Frühjahr 1940
zwischen 60.000 bis 80.000 Menschen zum Opfer. Es war in diesen Tagen,
als Margarethe v. Treskow bei Göring vorsprach.
Literatur:
Ulrich von Hassel, Vom anderen Deutschland.
Aus den nachgelassenen Tagebüchern
1938-1944, Freiburg 1946, S. 126.
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